Introduction
Einleitung
Enzyklopädie der Neuzeit - ein Gemeinschaftsunternehmen von Kulturwissenschaftlichem Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen (Essen) und J.B. Metzler Verlag (Stuttgart/Weimar)
Die Absicht: Die Enzyklopädie der Neuzeit setzt die
beiden vom Verlag J.B. Metzler erfolgreich abgeschlossenen Enzyklopädien
Der Neue Pauly (18 Bände plus Registerband) und Lexikon
des Mittelalters (9 Bände plus Registerband) fort. Sie umfasst
im Kern die vier Jahrhunderte von 1450 bis 1850 und will diese begrifflich
und sachlich erschöpfend erschließen. Unter den vor allem
fremdsprachigen Lexika und Handbüchern, die es zu diesem Zeitraum
gibt, zeichnet sich die neue Großenzyklopädie dadurch aus, dass
sie zum ersten Mal die Frühe Neuzeit (bis etwa 1750) und die
Revolutionäre Neuzeit (bis etwa 1850) als durchgehende Entwicklung
erfasst. Sie behält dabei im Blick, dass diese Epoche vielfach mit
der Moderne verbunden ist.
Die neue Enzyklopädie orientiert sich in ihrem sachlichen Anspruch
am aktuellen Wissenschaftsstand in allen historischen Fächern.
Sie setzt sich aber nicht einfach aus einzelnen Fachenzyklopädien
zusammen, sondern betont die übergreifenden Momente eines
kulturgeschichtlichen Zusammenhangs aller Entwicklungen, Lebensformen
und Erkenntnisrichtungen der Zeit. Die Beiträge sprechen eine
allgemein verständliche, transparente Sprache. Die
Enzyklopädie der Neuzeit ist daher von hohem Interesse
für alle historischen Richtungen der Geistes- und Naturwissenschaften.
Der zeitliche Rahmen: Die Neuzeit als Epoche zwischen dem Mittelalter und der Moderne beginnt etwa Mitte des 15. Jahrhunderts mit der Verbreitung des Buchdrucks, mit den großen Entdeckungsfahrten und dem Kontakt der europäischen Völker mit bisher unbekannten Ländern und Zivilisationen, mit der frühneuzeitlichen Staatsbildung, den Konfessionalisierungsprozessen im Kontext der Reformation und mit der methodischen Revolutionierung der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis. Sie endet Mitte des 19. Jahrhunderts mit den grundlegenden Transformationsschüben, welche die Moderne einleiten: Dazu zählen die Industrielle Revolution mit ihren gravierenden Folgen für die Lebensbedingungen breiter sozialer Schichten und für die Ausbildung neuer Klassenstrukturen, der Wandel von Lebensformen im Zuge von Urbanisierung, Verwissenschaftlichung, technischer Entwicklung und Professionalisierung, die Entstehung einer medial gesteuerten Massenkultur, die Bildung neuer politischer Organisationsformen sowie die Nationalitätenkonflikte, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend imperialistisch zuspitzten.
Das Weltbild: Die Enzyklopädie der Neuzeit konzentriert sich auf das "alte Europa" als Kernland, allerdings nicht im Stile eines Eurozentrismus, der die Neuzeit durch die Brille der späteren "weltgeschichtlichen" Hegemonialstellung Europas liest. Sie erfasst vielmehr unter Gesichtspunkten der globalen Interaktion die Kontakte und Konflikte mit anderen - viele Jahrhunderte vor ihrer "Entdeckung", Unterwerfung und Ausbeutung durch die Europäer - kulturell hoch stehenden Ländern und Kulturen. Sie trägt daher den vielschichtigen Beziehungsgeflechten und gegenseitigen Einflüssen zwischen den Kontinenten Rechnung. Die Geschichte Europas ist also durchgängig reflektiert und um den Blick auf die anderen Welten der Neuzeit ergänzt.
Schwerpunkte: Die Stichwortschöpfung der Enzyklopädie
der Neuzeit sah sich vor eine besondere Schwierigkeit gestellt, da
sie, auch im internationalen Vergleich, ohne Vorbild ist. Statt allein
den üblichen akademischen Disziplinen wie etwa Philosophie,
Theologie, Physik, Literaturgeschichte oder Jurisprudenz zu folgen,
wurden Themenfelder gebildet, die sich an den prägenden
Organisationsformen und Konfliktverläufen, Mentalitäten und
Lebensstilen einer vormodernen Gesellschaft orientieren. Diese
Themenfelder werden von Fachherausgeberinnen und Fachherausgebern in enger
Abstimmung miteinander wissenschaftlich verantwortet und organisatorisch
betreut:
Staat, politische Herrschaft und internationales Staatensystem
Schwerpunkte sind, in gesamteuropäischer Perspektive, die
monarchischen und ständischen Grundlagen der frühmodernen
Staatlichkeit, Kriege und Techniken der Friedenswahrung, die wesentlichen
politischen Bewegungen und Revolutionen sowie die politischen Ideen, die
sich mit den Leitwerten von Freiheit und Nation verbanden und ihren
Ausdruck in der politischen Reflexion dieser Epoche fanden.
Globale Interaktion
Die Beziehungen zwischen europäischen und außereuropäischen
Kulturen gewannen in der Folge der Entdeckung Nord- und Südamerikas
und Australiens sowie in der Ausweitung der Kontaktzonen mit Asien und
Afrika eine neue Qualität; dies wird anhand von Handelsbeziehungen,
Sklaverei, wechselseitigen Einflüssen, Wahrnehmungen und
Austauschbeziehungen aufgezeigt, unter Berücksichtigung des damit
einhergehenden Wandels des europäischen Selbstbildes.
Recht und Verfassung
Neben öffentlichem Recht, Privatrecht und Strafrecht werden die
Verfahren und Instanzen der Gesetzgebung, die Entwicklung der
Rechtswissenschaft, der Rechtsphilosophie, des Naturrechts und der
Grundrechte, die Institutionen und Verfahren des Justizwesens sowie
die sozialen Aspekte von Gewalt und Kriminalität dargestellt.
Lebensformen und sozialer Wandel
Gesellschaftliche Änderungen betrafen alle Bevölkerungsschichten,
soziale Gruppen wie Adel, Bürgertum, Handwerk oder Unterschichten,
die Familie und Geschlechterbeziehungen als grundlegende Einheiten des
Zusammenlebens, Lebensläufe von der Kindheit bis zum Alter, agrarische
und städtische Lebensstile und soziale Organisationsformen.
Wirtschaft
Im Zentrum stehen die Transformationsschübe der europäischen
Wirtschaft im Zuge von funktionaler Differenzierung, Kommerzialisierung
und zunehmender Marktvergesellschaftung; den wichtigen Entwicklungen in
Arbeit, Landwirtschaft, Gewerbe, Handel, Geldwirtschaft, Ernährung
und Konsum und nicht zuletzt in der politischen Ökonomie wird
Rechnung getragen.
Naturwissenschaften und Medizin
Zu Beginn der Neuzeit setzte eine Revolutionierung des
naturwissenschaftlichen und medizinischen Denkens ein. Wichtige Themen
sind die Zentren, Medien und Folgen dieses neuen mathematischen,
chemischen, physikalischen und medizinischen Wissens, welche die
Vorstellungen von Mensch, Welt, Natur, Leben und Evolution
veränderten.
Bildung, Kultur und Kommunikation
Unter den weiten Kulturbegriff der Enzyklopädie fallen Humanismus,
Renaissance, Aufklärung, Historismus als zentrale Kulturepochen,
das Bildungswesen, die "kulturwissenschaftlichen" Disziplinen
von der Geschichtswissenschaft über die Philosophie bis zur
Philologie, die Alltags- und Volkskultur als Inbegriff kollektiver
Mentalitäten, Symbole und Riten, die öffentlichen und privaten
Kommunikationsformen und deren Medien sowie auch die Ausbildung eines
neuen Zeitbewusstseins.
Kirchen und religiöse Kultur
Unter religionshistorischen Gesichtspunkten ist die Neuzeit eine
Transformationsepoche mit bis heute einschneidenden Folgen. Themen
sind die Kirchen, Religionen und religiösen Bewegungen, deren
Koexistenz und Konflikte, Prozesse der Konfessionalisierung und
Säkularisierung, die Frömmigkeitskulturen, Weltbilder,
Symbole und Praktiken des religiösen Alltags sowie die Inhalte,
Problemstellungen und kulturellen Kontexte der theologischen Lehren.
Literatur, Kunst und Musik
Die Enzyklopädie informiert nicht allein über die Hauptformen
und Veränderungen in Literatur, Theater, Architektur, Malerei,
Skulptur und Musik in den Kunstepochen der Neuzeit, sondern auch
über deren institutionelle Aspekte, kulturelle Rahmen und soziale
Akteure, über die ästhetische Theoriebildung und den
zeitgenössischen Musik-, Kunst- und Literaturdiskurs.
Umwelt und technischer Wandel
Die Technik ist nicht nur als materielle Kultur, sondern als Ausdruck
menschlichen Handelns gefasst, das der Aneignung von Natur und ihrer
Ressourcen dient und eminente Folgen für die Umwelt zeitigt.
Dabei geht es um die technischen Entwicklungen und ihren
gesellschaftlichen Rahmen, die Träger und Institutionen technischen
Wissens, den Technologietransfer, um Transport und Verkehr, das
Montanwesen sowie Fragen der neuzeitlichen Energiegewinnung.
Alle diese Dimensionen der neuzeitlichen Geschichte sind bei der Auswahl
der Musterartikel gleichwertig berücksichtigt.
Die Herausgeber: Die Gesamtherausgeberschaft der Enzyklopädie der Neuzeit liegt in den Händen des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Essen, vertreten durch den Geschäftsführenden Herausgeber. In Verbindung mit ihm betreuen 24 international bekannte Experten die verschiedenen wissenschaftlichen Gebiete. Weitere 60 Wissenschaftler/innen organisieren als Teilbearbeiter die Spezialbereiche innerhalb der Themenfelder.
Die Autoren: über 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus europäischen und außereuropäischen Ländern präsentieren ihr Fachwissen zu über 5000 historischen Themen. Somit sind auch alle international wichtigen Ansätze und Richtungen vertreten.
Die Stichwörter: Die Artikel behandeln sowohl die Ereignisse, Strukturen und Entwicklungen der neuzeitlichen Geschichte als auch die analytischen Verfahren, Konzepte und Probleme der Forschung. Dementsprechend sind die Stichwörter einerseits den Quellensprachen des 15.-19. Jahrhunderts, andererseits auch der aktuellen Forschung entnommen. Die Enzyklopädie eröffnet somit vielfältige Möglichkeiten, sowohl Detailwissen zu Einzelphänomenen gezielt nachzuschlagen als auch Informationen zu historischen Untersuchungsansätzen und Interpretationsverfahren abzurufen. Jeder Artikel schließt mit einer Bibliographie, die den aktuellen internationalen Wissensstand zum Thema vermittelt.
Die Abbildungen: Die Enzyklopädie der Neuzeit ist reich bebildert. Die Illustrationen, Grafiken und Karten veranschaulichen Sachverhalte aus allen Wissensbereichen nicht allein bildlich, sondern auch durch aussagekräftige Legenden, welche die dargestellten Themen präzise interpretieren.
Die Artikelstruktur: Durch begriffliche und sachliche
Ausdifferenzierung und ein System von untereinander vernetzten
Schlüssel-, Dach- und Einzelartikeln ergibt sich ein Feld von ca.
5000 Artikeln, mit denen die Eckpunkte der neuzeitlichen Entwicklung in
ihrer Komplexität umfassend sichtbar werden.
Etwa 100 Schlüsselartikel erschließen die
Grundphänomene der neuzeitlichen Geschichte länder- und
epochenübergreifend. Sie legen die Fakten und Zusammenhänge
komprimiert dar und führen in die wichtigen Forschungsansätze
und -begriffe ein. Sie dienen der überblicksartigen Orientierung
zu größeren Themen und leiten durch Verweise zu
Detailbehandlungen weiter.
Die etwa 900 Dachartikel konkretisieren auf mittlerer Ebene
wesentliche Gesichtspunkte der Schlüsselartikel. Sie behandeln
zentrale Aspekte neuzeitlicher Geschichte und Kultur eingehender.
Der noch konkreteren Information dienen auf der dritten Ebene die
etwa 4000 Einzelartikel. Sie präsentieren Detailinformationen
zu enger definierten Themen und sind ebenfalls über ein Netz von
Querverweisen mit den Dach- und Schlüsselartikeln verbunden.
Essen / Stuttgart, Mai 2004
Friedrich Jaeger (Kulturwissenschaftliches Institut)
Bernd Lutz (J.B. Metzler Verlag, Stuttgart)